ERNEUTE UMDEUTUNG DES WÄHLERWILLENS WÄRE ABENTEUERLICH

Im Interview der Berliner Morgenpost: Emine Demirbüken-Wegner und Dirk Krampitz

Reinickendorf hat einen SPD-Bürgermeister, die CDU seiner Vize Emine Demirbüken-Wegner ist stärkste Partei. Nun greift sie an.

Die Liste ihrer Ämter und Erfahrungen ist lang: Sie war Sozialarbeiterin, Journalistin, Integrationsbeauftragte, Staatssekretärin in der Gesundheitsverwaltung, Mitglied des Abgeordnetenhauses und des CDU-Bundesvorstandes. Emine Demirbüken-Wegner (CDU) zog mit acht Jahren aus der Türkei nach Berlin, studierte hier Publizistik und Germanistik. Seit Januar 2022 ist sie stellvertretende Bezirksbürgermeisterin und Stadträtin für Soziales und Bürgerdienste in Reinickendorf. 
Und nach der Wiederholungswahl will sie Bürgermeisterin des Bezirks werden. Denn die CDU ist dort traditionell stärkste Kraft, auch bei der Wahl 2021 mit 29 Prozent trotz 6,6 Prozent Verlust. Aber dank der Zählgemeinschaft der Reinickendorfer Ampel ist Uwe Brockhausen Bürgermeister (SPD, 23,8 Prozent, +2,4). Ein Interview über Reibereien in der Zusammenarbeit, Probleme im Bezirk, Fehler der Reinickendorfer Ampel und dem Durchhaltewillen bei Gegenwind.

Frau Demirbüken-Wegner, warum wollen Sie Bürgermeisterin von Reinickendorf werden?

Emine Demirbüken-Wegner: Politik ist ein Wettbewerb um die besten Lösungen für die Menschen. Ich denke, die CDU-Reinickendorf hat über 25 Jahre bewiesen, für den Bezirk gute Perspektiven aufzuzeigen. Das geschah nicht immer fehlerfrei und in einigen Punkten auch deutlich verbesserungswürdig. Aber unsere praktizierte Kommunalpolitik war und ist an den Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger in diesem Bezirk orientiert. Praxisnähe und Menschenzugewandtheit statt Ideologie, das ist mein Ansatz.

Aber Reinickendorf hat doch bereits einen Bürgermeister. Mit den Stimmen der Reinickendorfer Ampel ist Uwe Brockhausen (SPD) gewählt worden, Sie sind derzeit seine Stellvertreterin. Bürgermeister und Stadträte sind „Beamte auf Zeit“, ihre Amtszeit endet, egal wie die Wiederholung der Wahl ausgeht, mit der Legislaturperiode im Sommer 2026.

Die CDU ist im Bezirk die stärkste politische Kraft, und zwar mit einem gehörigen Abstand von sechs Prozentpunkten zur SPD! Der Umstand, dass wir nun einen SPD-Bezirksbürgermeister im Amt haben ist der FDP zuzuschreiben. Diese forderte nach den Wahlen im September 2021 von der CDU einen Stadtratsposten, der ihr nach dem Gesetz nicht zustand. Diese Pervertierung des Wählerwillens haben wir abgelehnt. Die FDP erhielt von der SPD dann den Posten des stellvertretenden BVV-Vorstehers und verschaffte so Rot-Grün im Bezirk die eine entscheidende Stimme Mehrheit in der Bezirksverordnetenversammlung. Damit sich dies nicht wiederholt, muss die CDU an Stimmen zulegen. Ich stelle mich nicht hin und verweise auf Formalien. Entscheiden die Reinickendorferinnen und Reinickendorfer sich für eine andere Führung im Rathaus, dann muss das Konsequenzen haben. Eine erneute Umdeutung des Wählerwillens wäre abenteuerlich.

Wie beurteilen Sie Ihre Zusammenarbeit mit und Ihr Verhältnis zu Uwe Brockhausen?

Jedes Bezirksamt in Berlin ist ein sogenanntes Kollegialorgan und eben nicht ein politisches Bezirksamt. Dies ist eine gute und sinnvolle Konstruktion, weil damit gewährleistet werden kann, dass alle wesentlichen kommunalpolitischen Positionen der Menschen im Bezirk Einfluss auf die Entscheidungen im Rathaus nehmen können. Ich wiederhole mich: Inhalt von Kommunalpolitik ist nicht Ideologie, sondern Politik mit den Menschen und für die Menschen hier. Daran sollten sich auch der Diskurs, die Diskussion und die Entscheidungen in einem Bezirksamtsgremium orientieren.

Belastet diese außerplanmäßige Wahl die Zusammenarbeit und/oder das Verhältnis der Fraktionen untereinander beziehungsweise die politische Arbeit? 

Nachdem das Bezirksamt sich vollständig konstituieren konnte, haben wir alle uns auf unsere Arbeit eingestellt. Die Unrechtmäßigkeit der Wahlen im September 2021 haben die Parteien des jetzigen Senats zu verantworten. Natürlich versucht jede in der BVV vertretene Fraktion die verbleibenden Wochen bis zum Wahltermin am 12. Februar für die eigene positive Darstellung zu nutzen. Das geschieht nicht ohne Konflikte, ich hoffe aber ohne persönliche Diffamierungen.

Sie sind als Bezirksstadträtin auch für die Organisation der Wahl in Reinickendorf zuständig. Wie läuft’s aktuell?

Die Organisation der Wahlen im Bezirk ist eine Querschnittsaufgabe für alle Mitglieder des Bezirksamtes. Es muss Personal abgeordnet und eingeteilt werden, es müssen Räumlichkeiten freigeräumt und ausgestattet werden, es müssen Finanzmittel zur Verfügung gestellt werden. Das alles bekommen wir sechs Dezernenten ganz gut hin. Das größte Problem liegt in der Gewinnung der Wahlhelfer, insbesondere weil die Landeswahlleitung, Sie haben es angesprochen, hier berechtigterweise hohe Ansprüche formuliert hat. Die Bürgerinnen und Bürger haben einen Anspruch, dass diese Wiederholungswahlen nicht erneut im organisatorischen Chaos enden. Daran arbeiten wir und dazu bin ich zum jetzigen Zeitpunkt vorsichtig optimistisch.

Zu Ihren Visionen und Plänen für Reinickendorf: Was sind die drängenden Probleme im Bezirk? Welche Weichen wollen Sie stellen?

Seit November 2021 „regiert“ eine Bezirkskoalition aus SPD, Grünen und FDP im Rathaus Reinickendorf. Diese Zählgemeinschaft verantwortet den Straßenbau und die Grünpflege, die Stadtplanung und die Wirtschaftsförderung, die Jugendarbeit, das Kulturangebot, die Umweltpflege und das Gesundheitswesen im Bezirk. Die Bereiche Schulausstattung und Gebäudeverwaltung, Soziales und Bürgerämter und das Ordnungsamt sind CDU-geführt. In SPD-Hand sind das bezirkliche Personal und die Bezirksfinanzen. Und genau da sind die Probleme zu finden! 

Nämlich?

Der Bezirk wird von der Flüchtlingswelle des Ukrainekrieges überrannt, das Sozialamt und die Bürgerämter wissen vor Arbeit nicht ein noch aus! Das Personal fehlt an allen Ecken und Enden. Unser Stadtbild vermüllt immer mehr, niemand ist zur Kontrolle da! Toiletten, Klassen- und Pausenräume in den Schulen sind teilweise in schlechtem Zustand und den Schulen fehlt es an Geld! Und was machen SPD-Grüne-FDP im Bezirk? Sie nehmen das vorhandene Geld und stecken es nur in ihre Bereiche. Mehr Personal für das Bürgeramt – Fehlanzeige! Mehr Geld für die Reinigung der Schulen – gibt es nicht! Mehr Mitarbeitende für das Ordnungsamt – wozu? Knapp 30 Stellen sind bei der Stadtentwicklung, Grün- und Straßenpflege unbesetzt. Was macht die sogenannte ‚Ampel‘? Noch einmal zehn Stellen rauf, weiter unbesetzt! Im Ergebnis können die noch von der CDU-Reinickendorf 2020 angeschobenen Stadtentwicklungsinvestitionen rund um die Residenzstraße nicht umgesetzt werden und müssen bis zum Sankt-Nimmerleinstag verschoben werden. 

Wie sieht es denn mit der Bildung aus?

Ich bin fünf Jahre Vorsitzende des Bildungsausschusses im Abgeordnetenhaus von Berlin gewesen. Da war vollkommen klar, dass Reinickendorf mindestens eine, am besten zwei neue Schulen braucht. Ich kann nicht erkennen, dass es zwölf Monate nach Start der Reinickendorfer Ampel erkennbare Erfolge zur Realisierung solcher Investitionen in die Bildung unserer Kinder gibt. Aktuell wurde eine Wirtschaftsbroschüre vorgestellt. Ich wurde nicht nur aus Wirtschaftskreisen ironisch angesprochen, ob das der Ansatz „4.0“ einer längst bekannten Ansiedlungsphilosophie Wanjura’scher Prägung (Anm.: Marlies Wanjura (CDU) war von 1995 bis 2009 Bürgermeisterin in Reinickendorf) der frühen 2000er ist. Neue Ideen sind also auch da Fehlanzeige. Niemand weiß, wofür der Bezirk eigentlich noch steht. Wir haben eine Bezirksführung, die sich hinter den Schreibtischen der Amtsstuben versteckt, sich es aber da mit zusätzlichem Personal komfortabel gemacht hat. Das hat dieser Bezirk nicht verdient!

Sie haben es zu Beginn des Gesprächs selbst gesagt: Die CDU stand Reinickendorf mehr als ein Vierteljahrhundert vor. Punkte wie der Zustand der Schul-Toiletten, die zunehmende Vermüllung oder auch der Personalnotstand, sind keine Entwicklungen des vergangenen Jahres. Machen Sie es sich nicht zu einfach, die Schuld bei allen außer der CDU zu finden?

Reinickendorf hat mit CDU-Führung in der Vergangenheit trotz knapper Kassen die jeweiligen Schul- und Sportstättensanierungsprogramme mit eigenen Finanzmitteln aufgestockt. Dies ist mit dem Doppelhaushalt 2022/23 verändert worden. Es geht also nicht weiter und der Bestand leidet. Der Personalnotstand ist dem Berliner Senat zuzuschreiben. Wenn ich jedoch zusätzliches Personal zugemessen bekomme, dann muss ich dieses in die brenzligen Bereiche schicken, nicht dorthin, wo ich es mir bequem mache. Die Vermüllung hat aktuell massiv zugenommen, weil der Bezirk hier nicht mehr entgegenwirkt. In den 2000ern wurden eigene Räumtrupps eingesetzt. In den 2010ern ein striktes Verfolgen von Verstößen praktiziert. Beides findet nicht mehr statt, weil die personellen Schwerpunkte im vergangenen Jahr verschoben wurden. 

Jeder Bezirk sollte zwei Standorte für Modulare Unterkünfte für Geflüchtete (MUF) benennen. Beide von Reinickendorf benannten Orte scheinen nun nicht mehr nutzbar. Andererseits leistet Reinickendorf ja auch viel Flüchtlingsarbeit auf dem Gelände der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik und dem Flughafen Tegel: Ist Reinickendorf noch in der Bringschuld? 

Die Diskussion um die MUF begleitet uns seit fast vier Jahren. Mein Ansatz war immer, dass solche Einrichtungen ein vernünftiges Umfeld brauchen. Natürlich sind alle ehrlich fluchtsuchenden Menschen willkommen. Es ist aber eine ganze Menge, was dahinter nicht nur an Integrationsmaßnahmen geleistet werden muss. Dazu zählen soziale und pädagogische Einrichtungen, also Jugend- und Senioreneinrichtungen, Schulen, Kiez- und Quartiersbetreuungen. Die weiteren diskutierten MUF-Standorte in Reinickendorf weisen dies nicht auf, sondern sind bereits in sozial extrem schwieriger Situation. Übergangsweise hatte ich im Herbst 2020 das ehemalige Hotel am TXL vorgeschlagen. Es hat bis zum Frühjahr 2022 gebraucht, dies umzusetzen. Auf dem KaBoN-Gelände sind die Unterbringungskapazitäten deutlich erweitert worden – übrigens zulasten des geplanten Wohnungsbaus. Reinickendorf hat vor diesem Hintergrund also bereits geliefert.

Fühlt sich Reinickendorf als Randbezirk vom Senat gut unterstützt?

Das Verhältnis Senat-Bezirke ist ein schwieriges. Ich kenne als ehemalige Staatssekretärin beide Seiten und habe mich ständig bemüht, die Bezirke einzubinden, mitzunehmen. Aber auf der jetzigen Landesebene fällt den Handelnden immer wieder Neues ein. Da wird ständig umorganisiert, Verantwortlichkeiten werden hin und her verlagert und wenn Dinge nicht klappen, sind die Bezirke immer die Doofen. Tatsächlich lässt man aber die Bezirke allein. Dies beginnt mit unklarem und lang andauerndem Kompetenzgerangel und mündet in mangelnder finanzieller und personeller Ausstattung. Der Fokus der aktuell Berlin regierenden Parteien SPD, Grüne und Linke richtet sich zudem eindeutig auf den Innenstadtbereich. Wohl auch deshalb, weil man hier die meisten eigenen Wählerinnen und Wähler vermutet. Damit gerät hier und da einiges vom Roten Rathaus her betrachtet in den Hintergrund. Wir müssen also lauter werden. Das ist mein Ziel.

Warum sind Sie in die CDU eingetreten? Haben Sie jemals mit einer Partei geliebäugelt? 

Ich habe einen konservativen Grundwertekompass. Es stand für mich politisch daher nie zur Diskussion, in eine andere Partei einzutreten. Bewahrenswertes schützen, sich gesellschaftlich ohne ideologische Scheuklappen fortzuentwickeln, die Würde des Menschen und seiner Selbstbestimmung in Eigenverantwortung zu wahren, das alles sehe ich in meiner Partei als echtes Kulturgut.

Parteien gelten noch immer als Männerclubs, auch wenn es sich zu ändern scheint. Wie ist Ihr Eindruck?

Die Gesellschaft entwickelt sich sehr dynamisch weiter. Ich sehe am Werdegang meiner Töchter, wie rasant sich die Rollenbilder ändern, wie schnell alte Bastionen umgerannt werden. Dies macht auch vor Parteien nicht halt. Zwei von drei CDU-Stadträten sind weiblich. Die Hälfte der Fraktionsführung in der BVV ist weiblich. Ich habe nicht den Eindruck, dass die CDU-Reinickendorf ein Männerclub ist.

Sie kennen das Gefühl von Gegenwind. Zur Stadträtin wurden Sie erst im dritten Wahlgang gewählt, weil Ihnen politische Gegner unterstellt haben, das Titelbild einer von Ihnen verantworteten CDU-Ortsteilzeitschrift sei fremdenfeindlich. Im Artikel dazu ging es gegen das Paracelsus-Bad als Standort für eine MUF. Wann haben Sie zum letzten Mal gedacht: Ich habe keine Lust mehr auf Politik? 

Aufgeben? Nicht einen Moment denke ich an so etwas. In diesem Gegenwind, den Sie ansprechen, fühlte ich mich zu Unrecht behandelt. Mit Blick auf meine Vita war das persönliche Diffamierung der üblen Sorte aus sehr vordergründigen machtpolitischen Motiven. Ich musste erst mal zur Klärung beitragen. Das konnte ich so nicht stehen lassen. Ich bin eine Kämpferin. Das habe ich von Kindesbeinen an gelernt. Rückblickend auf die knapp zwölf Monate im Amt habe ich wohl auch bewiesen, dass diese Kampagne Humbug war. Was viele unterschätzen: Ich habe einen langen Atem.


Quelle: Berliner Morgenpost